„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art 1 GG).
Staatsverfassungen definieren Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, indem sie Pflichten für alle diejenigen Menschen formulieren, welche dem Staat dienen. Für Lehrkräfte bedeutet dies vor allem, dass sie die Würde ihrer Schüler zu achten und zu schützen haben. Diese Verpflichtung wird von Lehrkräften missachtet, wenn sie das ungleiche Machtverhältnis ausnutzen.
So mag es sich störend auf das Unterrichtsgeschehen auswirken, wenn Schüler mitten in der Stunde auf die Toilette müssen. Gleichwohl steht es keinem Lehrer zu, einem Schüler dieses Recht zu verwehren. Auch mag ein Lehrer vermuten, dass der Schüler Kopf- oder Bauchschmerzen nur vortäuscht, weil er gerade keine Lust hat oder nicht auf den Test vorbereitet ist. Trotzdem ist er kein Mediziner und kann daher die (physische) Situation des Schülers nicht ausreichend beurteilen. Einem Lehrer mögen politische oder religiöse Ansichten seiner Schüler absurd oder gar schädlich erscheinen. Trotzdem gibt es das „Überwältigungsverbot“, das gebietet, die ungleiche Machtstruktur nicht auszunutzen, um Schüler ideologisch zu beeinflussen.
In den letzten Jahrzehnten sind Körperstrafen durch Lehrkräfte verboten worden und Schülerrechte wurden gestärkt. Die gewaltfreie Erziehung und das Recht des Schülers auf selbstbestimmte Bildung waren in aller Munde. Auf der anderen Seite bestimmen finanzielle Zwänge, die sich in schlechter Ausstattung, übergroßen Klassen und zum Teil bedenklichen hygienischen Zuständen wie stinkenden Toiletten manifestieren, den Schulalltag.
Mit Beginn der Coronakrise scheint das zentrale Grundrecht der Menschenwürde nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrkräfte zur Disposition zu stehen. Nichts verdeutlicht diesen Umstand so klar, wie die in allen Bundesländern im Frühjahr 2021 eingeführte Pflicht zur regelmäßigen Testung auf das Coronavirus.
In Nordrhein-Westfalen betonten das Schulministerium und der damalige Ministerpräsident Armin Laschet vor den Osterferien 21, dass es ein Widerspruchsrecht geben werde. Eltern, die einer regelmäßigen anlasslosen Testung ihrer Kinder in der Schule nicht zustimmten, konnten dies schriftlich tun. Nach Ostern bemerkte Herr Laschet dann ziemlich flapsig, man brauche nun eine Testpflicht, da zu viele Eltern einen solchen Widerspruch eingereicht hätten.
Dabei war zunächst für die Lehrkräfte gar nicht die Frage ausschlaggebend, ob regelmäßige und anlasslose Testungen der Kinder ein sinnvolle Maßnahme seien oder nicht. Vielmehr war die geplante Art der Durchführung ein eklatanter Bruch aller Regeln, die in der Schule bis dahin galten: Lehrer, die das Pech hatten, an den Testtagen in der ersten Stunde Unterricht geben zu müssen, hatten die Schüler bei der Selbsttestung zu beaufsichtigen. Nicht nur wurden die Packungsbeilagen der Tests entfernt und durch Kurzanleitungen ersetzt, es gab auch keinerlei Fortbildung oder auch nur Kurzeinführung in diese Tätigkeit, die mit dem Lehrerberuf nichts zu tun hat, sondern eine medizinische Aufgabe darstellt. In Bezug auf Erste Hilfe oder andere medizinische Maßnahmen gibt es sehr klare Regeln, die sich damit zusammenfassen lassen, dass der Lehrer dem Schüler nicht einmal eine Tablette Aspirin geben darf, wenn dieser Kopfschmerzen hat.
Die Testungen sollten im Klassenverband durchgeführt werden, ohne Privatsphäre. Ein positiv getesteter Schüler war für seine Klassenkameraden als solcher erkennbar, mit den erwartbaren Nachwirkungen. An einigen Schulen wurden die „Positiven“ gar auf dem Schulhof geparkt, bis sie von den Eltern abgeholt wurden. Einer Testung durch die Eltern vor der Schule und vor der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittelwurde mit dem Argument, den Eltern könne man nicht trauen, widersprochen. Zumindest an den Grundschulen stellte sich dieses Vertrauen allerdings auf wundersame Weise wieder her, als Ende Februar 22 eine Überlastung der Labore dazu führte, dass Eltern nun doch zu Hause testen durften.
Viele Lehrkräfte und auch Schulleitungen nahmen in diesem Zusammenhang ihre Remonstrationspflicht wahr und wiesen ihre Vorgesetzten darauf hin, dass die Anweisung, solche Selbsttestungen zu beaufsichtigen, in ihren Augen geltendem Recht widerspreche. Die Remonstrationen wurden ignoriert oder mit nichtssagenden Schreiben beantwortet, mit Aussagen wie „gegen Verordnungen können Sie nicht remonstrieren.“ Es wurde Druck auf die Schulleitungen und Lehrkräfte ausgeübt, bis hin zur Androhung und Durchführung von Gehaltskürzungen und Disziplinarverfahren.
Ein Lehrer, der noch nicht auf Lebenszeit verbeamtet war und öffentlich erklärte, er werde Schüler nicht testen, wurde wegen „charakterlicher Schwäche“ aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Es handelt sich um den „Auffälligen“, der unter dem Pseudonym „Goethe“ mit der Gruppe „Rapbellion“ auch künstlerisch gegen die Corona-Maßnahmen protestierte und bis heute protestiert.
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ (Art 2 (2) GG).
Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, man dürfe wegen der Coronapandemie in die körperliche Unversehrtheit eingreifen. Es gibt nicht einmal eine Verordnung. Trotzdem wurde den Schulleitungen auferlegt, Schüler, die sich weigern, den Selbsttest durchzuführen oder einen Test aus dem Testzentrum vorzulegen – und Schüler, die keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen wollen – gar nicht erst auf das Schulgelände zu lassen.
Der nicht aufzuhebende Widerspruch zwischen der Schulpräsenzpflicht und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit wurde von Schulleitungen, Schulämtern und Bezirksregierungen schlicht ignoriert. Die Schulministerin von NRW, Frau Gebauer, sagte der Landeselternkonferenz NRW im April 2021, es würden keine Bußgelder erhoben und die Stunden, die wegen Testverweigerung versäumt würden, gälten als entschuldigt. Die Dezernenten der Bezirksregierungen bestätigen das auf Anfrage, aber nur mündlich, eine schriftliche Bestätigung gab es nicht. Trotzdem wurden viele Eltern, deren Kinder erklärt hatten, sich nicht testen lassen zu wollen, in der Folge mit Zwangs- und Bußgeldern wegen Schulpflichtverletzung belegt. In nicht wenigen Fällen wurde auch das Jugendamt bemüht und sogar eine Kindswohlgefährdung aus dem wegen Testverweigerung nicht erfolgten Schulbesuch konstruiert, was der gängigen Rechtspraxis eklatant widerspricht (vgl. z.B. Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 22.11.2021- 2 UF 220/20).*
Wer das Schulsystem nicht von innen kennt, versteht vielleicht die Absurdität der Situation nicht: Ursprünglich war die Situation so, dass jede Stunde, die aufgrund von Kürzungen nicht mehr erteilt werden konnte, zu Streitereien zwischen den Fachschaften, welches Fach wichtiger sei und damit zu endlosen Konferenzen, führte. Für jede Neuerung im Schulablauf wurden unzählige pädagogische Tage eingeplant. So ist die Umstellung von inhaltlich orientierten auf die kompetenzorientierten Lehrpläne, die seit mehr als zehn Jahren vorangetrieben wird, noch immer nicht zu hundert Prozent abgeschlossen. Ob diese Umstellung sinnvoll ist oder nicht, ist noch einmal eine andere Frage. Lehrkonzepte wie das „Schreiben nach Hören“ in der Grundschule, das nicht nur von den meisten Eltern von Anfang an intuitiv abgelehnt wurde, sondern in der Forschung schon vor Jahren als kontraproduktiv entlarvt worden ist, sterben nur sehr langsam aus.
Das ansonsten so inflexible Schulsystem, dessen Mühlen genauso langsam mahlen wie die Mühlen deutscher Behörden im Allgemeinen mahlen, schaffte es im Frühjahr 2021 innerhalb weniger Tage, ein komplett schulfremdes und obendrein aller Schulpraxis diametral widersprechendes Konzept wie die Pflicht zur kollektiven Selbsttestung im Unterricht einzuführen. Und die meisten fanden das ganz normal, weil wir ja „Pandemie hatten“. Dabei stellen sich eine Menge Fragen dazu, wo die Millionen Tests auf einmal herkamen, wie sie produziert worden sind und ob ihre Anwendung gesundheitliche Gefahren mit sich bringt. Hierauf gab es keine Antworten, weil wir ja „Pandemie hatten“. Das unfassbare Leid, das den Schülern durch Corona-Maßnahmen wie die Testungen und die Maskenpflicht über den gesamten Tag zugefügt wurde, muss aufgearbeitet werden.
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art 3 (3) GG).
Im Februar 2022 hat ein neues Schreckgespenst die Bühne betreten und Corona ist in den Hintergrund getreten. Seitdem bestimmt der Krieg in der Ukraine und seine Folgen, wie die Aufnahme von über 100.000 ukrainischen Gastschülern in die deutschen Schulen, den Unterrichtsalltag. So wie in der Coronazeit von den Schulministerien Unterrichtsmaterialien zur Impfung bereitgestellt wurden, mit dem Ziel, für diese zu werben, wird den Lehrkräften aktuell Material an die Hand gegeben, um den Ukrainekonflikt im Unterricht zu thematisieren.
Erschreckend ist in diesem Zusammenhang nicht nur, dass der Dienstherr, der sich ansonsten ja auch darauf verlässt, dass Lehrer ihren Unterricht selbstständig vorbereiten können, in diesen Fragen anscheinend der Auffassung ist, dass er Inhalte vorgeben müsste. Erschreckend ist vor allem, dass eine weitere Säule der Werte, die in der Schule vermittelt werden sollen, gefallen ist. Das Überwältigungsverbot, die Ausrichtung an der wissenschaftlichen Methode und der Geist der philosophischen Aufklärung gebieten es, Schülermeinungen, auch wenn sie der Lehrkraft falsch, absurd oder sogar bösartig erscheinen, nicht zu verdammen, sondern möglichst ins Unterrichtsgeschehen zu integrieren und ergebnisoffen zu diskutieren.
Nur eines galt bisher: Alle Lehrkräfte haben für Frieden und Völkerverständigung einzutreten. Ein Schüler, der in einem fundamentalistisch-christlichen Kontext erzogen wurde, in einem fanatisch-islamischen oder einem politisch extremen, mag seine Meinung äußern, sich vielleicht der Kritik aussetzen, aber er wird nicht „überwältigt.“ Aber wer Gewalt verherrlicht, Terrorismus befürwortet oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wer Krieg propagiert, dem hat die Lehrkraft auf Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den Vorgaben des Grundgesetzes entgegenzutreten. Im Politik- Geschichts- oder Philosophieunterricht die verschiedenen Quellen zum Ukrainekonflikt zu studieren und zu diskutieren, wäre ein angemessener Umgang mit dieser neuen Krise. Hass auf russischstämmige Menschen zu schüren ist aber genauso illegitim wie Hass auf Ukrainer, Juden oder sonstige Gruppen.
* Genauso erschreckend, wie die furchtbaren Aussagen gegenüber Menschen, welche sich aus diversen Gründen nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen, sind die antirussischen Aussagen diverser Politiker, aber eben auch Lehrer und die damit verbundene Ausgrenzung (z.B. Spielverbote für russische Musiker, etc.).