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Wie funktioniert Kontaktschuld?

„An etwas schuld sein“, „die Schuld auf andere abwälzen“, „Schuld auf sich laden“, „Schulden begleichen“, „in jemandes Schuld stehen“, „jemanden von Schuld freisprechen“, „die Hände in Unschuld waschen“ oder aber auch „sich keiner Schuld bewusst sein“. In der deutschen Sprache gibt es jede Menge Formulierungen um auf die eigene Schuld, die eines anderen oder den Umgang mit Selbiger hinzuweisen.

Laut Wikipedia gibt es mindestens genauso viele Arten von Schuld, wie Sprichwörter oder Redewendungen diesbezüglich.

In einem Artikel aus Psychologie-Heute, wird die klinische Psychologin Helga Kernstock-Redl zum Thema Schuld befragt. Sie äußert sich folgendermaßen:

„Das Schuldgefühl quält und belastet. Oft tritt es gemeinsam mit Scham über einen Fehler oder Makel auf oder mit Angst vor Strafe. Das Unangenehme daran ist durchaus sinnvoll. Denn seine ursprüngliche biologische Aufgabe ist, uns zu motivieren, Schuld zu vermeiden, indem wir verinnerlichte Gesetze und soziale Spielregeln befolgen.“

Interessant an ihren Ausführungen sind die Verweise auf die „Angst vor Strafe“ und das „Befolgen sozialer Spielregeln“. Genau dies wird mit dem Mittel der Kontaktschuld bezweckt.

Nehmen wir also an, Person X trifft im Sportverein häufiger auf Person Y. Man geht nach dem Sport noch ein Bierchen trinken und nach ein paar Treffen stellt sich heraus, dass Person Y in einer Partei aktiv ist, die dem rechten Spektrum zuzuordnen ist. Laut Logik der Kontaktschuld ist Person X nun genauso rechts und verachtenswert wie Person Y. Auch wenn Person X absolut gar keine Berührungspunkte zu besagter Partei hat. Ggf. teilt Person X auch überhaupt keine Ansichten von Person Y oder deren Partei. Man findet sich einfach nett, kann gut plaudern und trinkt eben ab und an ein Bierchen zusammen. Möchte man nun nicht gleichfalls das Label „rechts“ aufgedrückt bekommen, so gebietet es der Anstand sich schnellstens von Person Y zu distanzieren, am besten so öffentlichkeitswirksam wie möglich. Hier schwingt besagte „Angst vor Strafe“ mit, denn was für Konsequenzen erwarten jemanden, der mittels Kontaktschuld ein Fehlverhalten vorgeworfen wird?

Was hier noch recht theoretisch klingt, kann die Berliner Zeitung mit einigen Beispielen aus einem recht aktuellen Artikel belegen. So ist hier zu lesen:

„Ein Kind durfte die Waldorfschule nicht besuchen, weil der Vater in der AfD ist. Der Fischer-Verlag trennte sich von Monika Maron, weil einer ihrer Texte in einem Kleinverlag erschienen ist, dessen Bücher nicht nur von Amazon, sondern auch von dem neurechten Verlag Antaios vertrieben werden. Der Geschäftsführer einer Filmförderung musste seinen Posten räumen, weil er mit einem AfD-Politiker zu Mittag gegessen hatte. Der Sponsor Check24 distanziert sich vom Sportkommentator Marcel Reif, nachdem er den hochsprachlichen Ausdruck „Jungtürken“ verwendet hatte, den einige Twitter-Nutzer als „rassistisch“ fehlgedeutet haben.“

Natürlich ist es auch ein Leichtes, gewisse „Tatbestände“ einfach zu konstruieren. Wirkliche Beweise sind dann nicht nötig. Wenn es z.B. um die Corona-Proteste geht, hört man häufig dass die Demonstranten alle Nazis seien. Einen tatsächlichen Beweis bleibt man allerdings schuldig. Es reicht vollkommen, dass ein Journalist einer großen Medienanstalt schreibt, auf einer Demonstration seien Rechtsradikale mitgelaufen und schon steht die ganze Gruppe unter Generalverdacht. Wieviel Prozent der Demonstranten sind in Wirklichkeit nicht einmal ansatzweise dem rechten Spektrum zuzuordnen? Für die Meinungsmacher ist dies allerdings unerheblich, es reicht schon, dass sich die Versammlung nicht auflöst, sobald der erste „Rechte“ gesichtet ist und schon sind alle per se gleichfalls rechts.

Bayerns Ministerpräsident Söder hat es einmal so formuliert:

“Ich mache mir schon Gedanken, wer da mit wem demonstriert. In der Ablehnung von Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 vereinen sich “Weltverschwörungstheoretiker”, rechte und linke Gruppen. Ich empfehle den Teilnehmern, nicht nur körperlichen, sondern auch geistigen Abstand zu wahren“.

Wer möchte es also dem deutschen Bürger verdenken, wenn er nun fleißig – angespornt durch gute Beispiele von „Oben“ – immer und überall anfängt das vermeintliche Fehlverhalten von Menschen herauszustellen und anzuprangern.

Das Portal „Die Presse“ hat es schön auf den Punkt gebracht:

„(…)scheint bei vielen eher dazu gedacht, ein Gefühl von moralischer Überlegenheit zu zeigen. Und quasi in Blockwart-Manier und mit erhobenem Zeigefinger vor allem einmal den anderen die Schuld zu geben.“

Hier treffen wir dann auch auf „das Befolgen sozialer Spielregeln“. Wer sich nicht an das ungeschriebene Regelwerk hält, wird heutzutage nicht nur von der Justiz verfolgt und zur Rechenschaft gezogen, sondern schon von den eigenen Mitbürgern. War es früher noch der Nachbar an der Fensterbank, der seiner Bürgerpflicht nachkam und die Falschparker anzeigte, so ist es heute jeder x-beliebige, der auf Twitter, Facebook und Co. anklagend seinen Zeigerfinder erhebt und auf die neusten Verfehlungen hinweist. Nur ist es hier nicht mehr mit der Entrichtung einer kleinen Geldbuße getan. Der moralische Pranger verlangt einem schon etwas mehr ab. Unter dem „Öffentlichen zu Kreuze kriechen“ mit anschließender Distanzierung von dem „Übel“, ist es heutzutage nicht mehr getan.

Selbst Wikipedia weiß, dass die Kontaktschuld eigentlich nicht zur juristischen Beweisführung geeignet ist, da sie:

„ein klassisches Pseudoargument ist, was nicht auf Tatsachen beruht.“

Da ist es doch umso schöner, wenn statt der Justiz nun der Bürger selber eingreift und zum moralischen Korrektiv wird.

Interessant ist im Übrigen, dass „Tatbestände“ immer nur belastend wirken und nicht entlastend. Hat – um bei dem Beispiel von oben zu bleiben – Person X also nun diesen einen „fragwürdigen“ Kontakt, ist ansonsten aber in einer linken Partei Mitglied, in der Kirchengemeinde aktiv, beteiligt sich an Wohltätigkeitsveranstaltungen und geht in der Freizeit noch mit den Hunden aus dem örtlichen Tierheim spazieren, so ist dies unwichtig und bietet keine Chance sich zu rehabilitieren. Haftet einem erst einmal das Stigma der Kontaktschuld an, so wird man sie so schnell nicht mehr los.

In diesen Tagen kann man schon qua Geburt zum Träger einer Kontaktschuld werden.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die Opernsängerin Anna Netrebko. Als russische Staatsbürgerin wird von ihr erwartet, dass sie sich aufs Schärfste vom Ukrainekrieg distanziert. Offensichtlich hat sie dies nicht deutlich genug gemacht, denn nun haben einige Opernhäuser eine Zusammenarbeit mit ihr beendet. Was Netrebko für den Krieg kann, bleibt schleierhaft und warum nun sie den Preis dafür zahlen soll, dass einer ihrer Landsleute ihn angefangen hat, ebenfalls. Ganz aktuell hat sich sogar, bei einem trotzdem stattfindenden Konzert der Sängerin, eine demonstrierende Menschenmenge gebildet, die offensichtlich nicht mit diesem Konzert einverstanden war.

Leider bleibt es im Fall des Ukraine-Kriegs aber nicht nur bei Repressalien gegen russische Staatsangehörige in Deutschland. Bereits im März dieses Jahres wurden auch körperliche Angriffe und Sachbeschädigungen registriert.

Die Gefahren des sich verselbständigenden Moralwächtertums scheinen auf der Hand zu liegen. Die über allem schwebende Kontaktschuld macht es unmöglich, frei seine Meinung zu äußern und den Diskurs zu suchen. Dies ist nicht nur bei Privatpersonen ein Problem, sondern erst recht bei Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, bei Personen in der Politik oder in großen Konzernen und auch bei Professoren an den Universitäten. Insgesamt wird so die Meinungsvielfalt deutlich beschnitten, da gewissen Themen einfach nicht mehr angesprochen werden, aus Angst, sich hierdurch selbst aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu haben.

Der Medienforscher Michael Meyen beschrieb es in einem Interview so:

„Der Kontaktschuld-Vorwurf bewirkt, dass Sie einen Menschen in die Isolation treiben und ihn in jeder Debatte unmöglich machen. Mit dem Kontaktschuld-Vorwurf ist man als Person nicht mehr satisfaktionsfähiger Teil irgendeines Diskurses.“

Das komplette Interview ist hier zu finden: https://www.planet-interview.de/interviews/michael-meyen/51694/

Ein wichtiges Zitat bezüglich des Themas Schuld hat übrigens einmal der Schriftsteller Erich Kästner getätigt. So sagte er:

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“