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Gesellschaft

Wie funktioniert Cancel Culture?

Ein immer häufiger auftauchender Begriff in Deutschland, sowie weltweit, lautet Cancel Culture. Doch was verbirgt sich dahinter?

Im Prinzip bedeutet dies, dass die Aussagen einer Person zensiert werden. Die Person wird boykottiert und sie selbst, samt ihrer Aussagen, soll somit auf lange Sicht und dauerhaft aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Des Weiteren sollen andere Personen – eingeschüchtert von den Erfahrungen anderer – gleich mit auf ihre Meinungsäußerung verzichten.

Nun sagen die einen, dass nur die sowieso privilegierten Menschen, die zu den Mehrheitsgesellschaften gehören, sich über Cancel Culture beschweren. Dass genau diese Leute aber über viel mehr Macht, Reichweite und Geld verfügen, um ihre Standpunkte so oder so zu verbreiten. Der Vorwurf der Cancel Culture würde nur in den Raum gestellt, um berechtigte Debatten von Vorneherein abzuwürgen. Die Gecancelten jedoch sehen die Gefahr, dass man nicht mehr sagen darf was man denkt, dass es keine Möglichkeit für offene Debatten mehr gibt und dies das Spektrum der Meinungen über die Maßen einschränkt. So sehen es z.B. 153 mehr oder weniger Prominente Unterzeichner eines offenen Briefes, der das Klima der Angst anprangert, in dem sich keiner mehr traut seine Meinung zu sagen.

In einem Welt-Interview äußerte sich unlängst auch der CDU-Chef, Friedrich Merz, zur Gefahr der Cancel Culture: „Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist aus meiner Sicht inzwischen die Zensurkultur, die man im angelsächsischen Sprachgebrauch auch „Cancel Culture“ nennt.“ Spannend, dass er sich kurz darauf gleich selber cancelte. So sagte er einen seiner Vorträge ab, weil einige der anderen Redner aktuell wegen ihrer „fragwürdigen Haltung“ in der Kritik stehen. Er möchte auf keinen Fall mit diesen Menschen in Verbindung gebracht werden (vgl. Artikel Kontaktschuld).

Die Themen, bei denen gecancelt wird, sind natürlich nicht so trivial, wie die Äußerungen über das beliebteste Urlaubsland, die richtige Eissorte oder welche Mode gerade zu tragen ist. Es geht hier um gravierende Themen, wie den Umgang mit der Flüchtlings- und der Corona-Krise, das Gendern, Political Correctness, oder den Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten. Ist Lieschen Müller der Meinung, nur Schoko-Eis sei die einzig wahre Eissorte, ist dies in etwa so interessant, als wenn in China ein Sack Reis umfällt. Ist sie aber z.B. der Meinung eine Frau sei eine Frau und bleibe dies auch wenn sie Männerkleider trage und sich als männlich identifiziere, so wird diese Aussage für einen großen Aufschrei sorgen.

So ähnlich geschehen ist dies, als sich die Autorin der Harry Potter Bücher dahingehend äußerte, dass es ein althergebrachtes Wort für „mensturierende Personen“ gäbe – und zwar das Wort „Frau“. Davon abgesehen, dass man J.K. Rowling für ihre Äußerungen an den medialen Pranger stellte, haben prompt vier Autoren, die im selben Verlag wie Rowling publizierten ihren Hut genommen, weil dieser sich nicht von Rowlings Äußerungen distanzierte. Ein Schulgebäude, welches nach der Autorin benannt war, wurde Januar diesen Jahres umbenannt und selbst das von Rowling erfundene „Quidditch-Spiel“ soll fortan nicht mehr so genannt werden. Mittlerweile ist J.K. Rowling sogar Antisemitismus in ihren Büchern vorgeworfen worden. Die Kobold-Bank Gringotts, bzw. deren Angestellte Kobold hätte „frappierende Ähnlichkeit zu Stereotypen über Juden“, weiß der Rolling Stone zu berichten.

Außergewöhnlich in der heutigen Zeit ist, dass Rowlings Verlag ihr offensichtlich nicht den Laufpass erteilt hat, obwohl selbst einige von Rowlings Mitarbeitern nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten wollten. Der Verlag äußerte sich wie folgt:

„Wir sind stolz J.K. Rowlings Kindermärchen ‚The Ickabod‘ zu veröffentlichen. Meinungsfreiheit ist der Grundstein des Verlagswesens. Wir glauben grundsätzlich daran, dass jeder das Recht hat, seine eigenen Gedanken und Überzeugungen auszudrücken. Aus diesem Grund haben wir noch nie die persönlichen Ansichten unserer Autoren kommentiert und wir respektieren, wenn unsere Mitarbeiter eine andere Meinung haben.“

Einem solchen Statement ist höchster Respekt zu zollen, findet man dieses Verhalten heutzutage nur noch selten.

Ende Juli wurde in der Schweiz ein Konzert in einer Brasserie abgebrochen, weil die weißen Künstler jamaikanische Lieder sangen und mit Dreadlocks auftraten. Einige Konzertbesucher hatten sich über diese kulturelle Aneignung beschwert. Aber was genau ist kulturelle Aneignung üerhaupt? Ein Artikel aus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland bietet hierzu interessante und ausgewogene Informationen:

„Das Cambridge Dictionary definiert kulturelle Aneignung („cultural appropriation“) als die Handlung, Dinge einer Kultur zu verwenden oder zu entnehmen, die nicht die eigene ist, vor allem ohne zu zeigen, dass man die Kultur verstanden hat, oder respektiert. Dabei bleibt offen, wie dieses Verständnis und der Respekt zu zeigen sind.“

Es ist nicht immer klar ersichtlich, warum es in einem Fall einen Aufschrei gibt bis hin zu Forderungen im Zuge der Cancel Culture, Weiße auszuschließen, wenn diese sich fremde Kulturen aneigneten. Die Debatten werden zudem oft hitzig geführt, da viele Emotionen im Spiel sind. Schwarze fühlen sich unverstanden und stigmatisiert, Weiße können diese Gefühle und Empfindungen nicht nachvollziehen und fühlen sich gegängelt. Gezeigt hat sich in der Vergangenheit allerdings etwa in den Kommentarspalten von sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Twitter, dass Forderungen von informellen Verboten, etwa Menschen vorzuschreiben, welche Frisuren sie tragen sollen, nicht zu mehr Verständnis und mehr Offenheit im Diskurs geführt hat.

Gab es so etwas wie Cancel Culture nicht auch früher schon? Ja, die gab es. Allerdings nicht in dieser Art und Weise, wie sie heute stattfindet. Früher wurde von den Monarchen, den Despoten oder Diktatoren entschieden, was sein darf und was nicht. Heute wird von der medialen Öffentlichkeit auf Twitter und Co. entschieden. Jeder schwärzt jeden an und es gibt nicht die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Wurden früher die Betreffenden vor ein Gericht gestellt und abgeurteilt, so ist die heutige Verurteilung schnell im Internet getroffen und selten führen die verteidigenden Aussagen zu einer Rehabilitierung. Eine Verteidigung der eigenen Meinung ist aktuell auch nicht gewünscht. Gewünscht wird ein öffentliches Zu-Kreuze-Kriechen und Zurückrudern von den eigenen Äußerungen.

Ist diese Situation nun aber eine Verbesserung – weil die Entscheidungen doch angeblich auf den Schultern der Mehrheit ruhen? So es denn überhaupt die Mehrheit ist. Denn nicht jeder hat heutzutage einen Twitter-Account oder meldet sich dort zu jedem Thema zu Wort.

Irgendwie scheint sich hier auch die Katze in den eigenen Schwanz zu beißen. Es geht angeblich um den Schutz der Minderheiten vor den Mehrheiten. Wie kann es da gerecht sein, wenn nun wieder die (mediale) Mehrheit entscheidet, was zu tun ist?! Was ist denn dann mit der Minderheit, die diese Entscheidungen wiederum nicht gut findet? Und wer hat diese Minder- oder Mehrheiten überhaupt gezählt? Ist es in Ordnung eine Minderheit zu diskriminieren, weil sie ehemals eine Mehrheit war und noch nie diskriminiert wurde? Die Aussage, dass Minderheiten geschützt werden müssen und die Mehrheit deshalb ab und an zurückzustecken hat, scheint auch hinfällig zu sein, wenn man unser Parlament betrachtet. Hier wird auch per Mehrheitsentscheid regiert. Wer sich meinungstechnisch in der Minderheit befindet hat im Normalfall einfach „Pech gehabt“. Stellt sich also immer noch die Frage. Wann werden die Meinungen von Minderheiten durchgesetzt und wann die Meinungen von Mehrheiten? Die Antwort scheint: immer dann, wenn es von der Politik so gewollt ist.

Entscheidet die Mehrheit der Politiker, so wird dies umgesetzt. Entscheidet die Mehrheit des Volkes, so ist dies nur interessant, wenn Politiker es genauso sehen. So hat sich z.B. eine große Mehrheit der Abstimmenden (80%) in der EU 2018 bei der Umfrage über die Abschaffung der Sommerzeit „dafür entschieden“.

Umfragen über das Gendern beweisen auch regelmäßig, dass die Mehrheit es nicht möchte, trotzdem soll es durchgeführt werden.

Bisher sind seit 1945 nur 25 Volksentscheide in Deutschland registriert, die „von unten“ initiiert wurden. Weitere 16 waren obligatorische Referenden der Regierungen.

Dass man nicht mit jeder Meinung einverstanden sein muss und dass man Kritik aushalten muss, ist wohl unstrittig, genauso, wie dass man es nicht jedem recht machen kann. Dass man sich aber über die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft beschwert, die immer nur ihre Interessen gewahrt haben will, es selber aber nicht anders macht ist wohl eher zweifelhafter Natur. Und darüber diskutieren zu wollen, hat nicht im Entferntesten damit zu tun, dass man Kritik nicht aushalten kann.

Aber nun zurück zu den Personen, die „angeblich“ gecancelt wurden. Gibt es noch mehr „Beweise“ als nur J.K. Rowling? Ja, die gibt es. Und es betrifft nicht nur aktuell noch lebende Personen.

  1. So wurden zum Beispiel in Amerika Schulen umbenannt, die nach früheren Präsidenten der USA benannt worden waren, weil sie in der damaligen Zeit mit Rassismus oder Diskriminierung zu tun hatten.
  2. Des Weiteren sind Statuen von Christoph Kolumbus gestürzt worden, weil er „mit seiner Expedition nach Amerika die Kolonisierung und den Völkermord überhaupt erst ermöglichte“.
  3. Vorträge an Universitäten werden abgesagt, weil sie der aktuell gewünschten Geisteshaltung nicht entsprechen.
  4. Künstlern wird der Auftritt verwehrt, weil sie unliebsame Aussagen getätigt haben.
  5. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz, weil sie verpönte Wahrheiten aussprechen.

Offensichtlich wird also nicht nur versucht zu verhindern, dass gewisse Meinungen in der Öffentlichkeit geäußert werden, sondern es wirdanscheinend auch versucht die Erinnerung an die Vergangenheit zu verunmöglichen, was durchaus gefährlich werden kann. Um es mit den Worten aus George Orwells Roman 1984 auszudrücken:

„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

und

„Der effektivste Weg, eine Nation zu zerstören, ist, ihr Geschichtsverständnis auszulöschen.“

Um nun noch einmal auf die Aussage von Friedrich Merz zurück zu kommen: Es geht um die Meinungsfreiheit! Im §5 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist festgelegt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“.

Ja, man darf in Deutschland noch seine Meinung sagen! Zumindest solange man mit den Konsequenzen leben kann.

Ein äußerst interessantes Streitgespräch zum Thema Cancel Culture findet man übrigens bei 3SAT in der Mediathek: Philosophischer Stammtisch – Cancel Culture als neuer Pranger.