Meinungsfreiheit bedeutet, dass man sagen kann, was man denkt, ohne vom Staat dafür sanktioniert zu werden.
Wenn man zum Beispiel findet, dass Gessler ein Tyrann ist, dann wird Gessler, falls er tatsächlich ein Tyrann ist, alles tun, um einen zum Schweigen zu bringen. Ist er keiner, dann kann – und muss – er damit leben, dass er trotzdem so bezeichnet wird. Er kann dann nur mit eigenen Stellungnahmen und vor allem durch nachvollziehbare, rechtskonforme und nicht-tyrannische Politik versuchen, den Sprecher und diejenigen, die auch so denken, vom Gegenteil zu überzeugen.
Der allgemeine Trend geht dahin, dass Kritik an Personen, Institutionen oder Entscheidungen als „Hassrede“ gebrandmarkt wird. Das ist eine Art Schlupfloch: Man gibt vor, die Meinungsfreiheit zu schätzen und zu verteidigen, aber eben gegen „Hass und Hetze“ vorzugehen. Beleidigungen, Falschaussagen und Desinformationen gehörten eben nicht zum politischen Prozess. Nur dass eben oft diejenigen, welche die Macht in den Händen halten, bestimmen, was genau beleidigend, falsch und desinformativ ist. So würden – eigentlich – Aussagen wie die von Kretschmann („Der Ungeimpfte gefährdet andere, indem er sie einfach ansteckt…“ – man beachte den Singular!) als Beleidigung, Hassrede und Diskriminierung durchgehen. Solcherlei Aussagen werden aber eben nicht verfolgt. Aussagen, die aktuell über ethnische Russen getätigt werden, würden, wenn sie andere Volksgruppen betreffen würden, auch als Diskriminierung wahrgenommen.
Das amerikanische Sprichwort „Sticks and stones may hurt my bones, but words will never hurt me“ fasst die Widersprüchlichkeit von Meinungsgesetzen treffend zusammen. Jeder noch so besonnene und vorsichtige Autofahrer hat es schon erlebt, dass er im Straßenverkehr als „Arschloch“ oder ähnliches tituliert wurde, wenn der andere die Verkehrsregeln auf eine etwas andere Art und Weise als man selbst interpretierte. Und jeder, der nicht ausnehmend höflich und zurückhaltend ist, hat schon einmal jemand anderem etwas an den Kopf geworfen, was er später bereute, weil er es gar nicht so gemeint hat, sondern die Wut aus ihm sprach. Aber der Trend geht dahin, sich auch wegen Kleinigkeiten zutiefst beleidigt, diskriminiert und emotional verletzt zu fühlen und sich, wie z.B. an amerikanischen Universitäten üblich, in „Safe Spaces“ zurückzuziehen, um von da aus Beleidigungsanzeigen zu schreiben.
Jeder tritt jedem mal auf die Füße. Viele Diskussionen, vor allem zu politischen Themen oder Dingen, die im Alltag massive Belastungen bedeuten (z.B. Corona-Maßnahmen) werden nicht rein sachlich, sondern auch emotional geführt. Eine Atmosphäre, in der man immer darauf achten muss, den anderen mit seinen Worten nicht zu verletzen, so als wären die Worte wirklich „Stöcke und Steine“, ist eine Atmosphäre, in der man auch nicht mehr sachlich diskutieren kann, weil auch das stoische, emotionslose Vortragen von divergierenden Meinungen nach und nach als „störend“ empfunden wird. Letztendlich ist es der Dissens an sich, der nicht mehr ertragen wird. Alle müssen die gleiche Meinung zu allem haben.
Wer sein politisches Denken und Handeln nicht auf Sachabwägungen, sondern auf Emotionen stützt, der empfindet (z.B.) den Satz „es gibt wenig bis keine Beweise für eine globale Erwärmung“ als genauso „problematisch“ wie den Spruch „du bist doof!“ Die Sache, die politisch vertreten wird, ist emotional an den Wesenskern der Persönlichkeit gekoppelt. Wird sie infrage gestellt, fühlt man sich persönlich beleidigt.
Politische Veränderungen können nur geschehen, wenn politische Probleme offen angesprochen werden können. Wenn alle „abnicken“ müssen, was der Parteichef sagt, dann kann der Parteichef alles Mögliche anordnen (z.B. Zero-Covid in Shanghai zum 20.4.22, das hat der chinesische Staatschef tatsächlich angeordnet), alle werden sich bemühen, seine Forderungen zu erfüllen, selbst wenn das unmöglich ist.
Es geht also scheinbar nicht darum, Minderheiten vor Hassrede zu schützen, sondern darum, eine bestimmte politische Meinung unangreifbar zu machen. Wer sich gegen bestimmte Ideen stellt, ist so kein politischer Gegner mehr, mit dem man diskutieren muss, sondern eben ein Hasser und Hetzer, den man ignorieren, zensieren und auch juristisch belangen darf.
Dabei kann man beobachten, dass die Grenzen des „Sagbaren“ immer enger gezogen werden. Viele Aussagen von z.B. Franz Josef Strauß würden heute als „rechtsradikal“ eingestuft werden.
Der Grund für die Schweigespirale ist also nicht nur ein psychologischer, sondern vor allem der politische Hintergrund. Die abweichende Meinung muss gar nicht strafbar sein, es genügt, wenn einer weiß, dass bestimmte Äußerungen ihm berufliche Nachteile, soziale Ausgrenzung oder wirtschaftliche Einbußen bringen könnten.
Letztlich sind all diese gesellschaftlichen Mechanismen eine Form der subtilen Gewalt und nichts anderes, als wenn einer mit einem Baseballschläger vor dem Abweichler steht und ihm zu verstehen gibt: „Wenn du das jetzt sagst, gibt es einen auf die Fresse!“
Wir sehen also, dass die Verankerung der Meinungsfreiheit an prominenter Stelle im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und den Verfassungen der meisten demokratischen Staaten in dem Moment, in dem sie nicht mehr absolut und für jeden gilt, einem zahnlosen Tiger gleicht.
Wenn die Vertragsparteien Vertragsbrüche nicht bei einer höheren Instanz anzeigen und die vertragsbrüchige Partei sanktionieren lassen können, dann sind Verträge nichts wert. Die Selbstbeschränkung der staatlichen Strukturen funktioniert nur so lange, wie es innerhalb dieser Strukturen Instanzen gibt, welche darüber wachen, dass man sich auch wirklich selbst beschränkt, nicht nur in Ausnahmefällen, wenn es genehm ist.
Das ist nicht ohne historisches Vorbild. In den marxistischen Diktaturen war es ein beliebtes Unterdrückungsinstrument, die Menschen nicht nur zum genervten Widerkäuen, sondern zur enthusiastischen Wiederholung der Lügen zu zwingen. Man hatte nicht nur irgendwie mitzuschwimmen, man musste Begeisterung dafür aufbringen.
Und so reicht es heute auch nicht mehr aus, wenn man sich an die aktuellen Corona-Maßnahmen hält oder zu sagen, dass man die Privatsphäre anderer respektiert. Man soll Begeisterung für die Maßnahmen zeigen und seine Toleranz aktiv und offen zur Schau stellen.
Um Rebellion überhaupt noch leben zu können, verfolgen junge Erwachsene nun genau das, was von ihnen erwartet wird – mit indiskutablen Mitteln. Der Begriff „Nazi“ wird ständig erweitert – nicht mehr nur Querdenker und Reichsbürger, mittlerweile sind auch alle Menschen, die „Rastalocken“ haben, der „kulturellen Aneignung“ verdächtig, also Nazis – so dass man bald jeden politischen Gegner so bezeichnen kann. Und mit Nazis redet man ja bekanntlich nicht.
Die Maske als Symbol des politischen Schweigens illustriert in glänzender Weise den Unwillen der Mehrheit, sich gegen die vielfältigen Meinungsdiktate aufzulehnen.
Wenn in Zukunft auch in Europa über „Social Credit“ Systeme nach chinesischem Vorbild erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes Verhalten bestraft wird, haben die Leute auch im Privaten ein Tool, das sie nutzen können – wie im Internet, um jede missliebige Äußerung direkt mit einer schlechten Bepunktung/Note abzustrafen. All diejenigen, die sich schon jetzt, ohne Punkte, nicht trauen, sich offen zu äußern, werden es dann noch weniger tun. Man kann in China beobachten, wie sich ein Sozialpunktesystem auf das individuelle Verhalten auswirkt.