In Italien, Österreich und Bayern, wird aktuell die Einführung einer Vorform eines „Social Credit“ Systems nach chinesischem Vorbild diskutiert. Ökologisch bewusstes Verhalten soll Punkte bringen, die man dann einsetzen kann, um z.B. kulturelle Events kostenlos besuchen zu können.
Es soll zunächst nur Positivanreize geben, von Strafen wegen Fehlverhaltens wie in China redet man (noch) nicht.
Dass es menschenunwürdig ist, wenn man Menschen, die zu wenig „soziale Punkte“ haben, den Flug, Zug oder Restaurantbesuch verwehrt wie in China, ist genauso augenfällig wie der Zusammenhang mit dem Impfpass. Man hat sich schon daran gewöhnt, zu bestimmten Veranstaltungen nur Zugang zu erhalten, wenn man eine Impfung oder Genesung nachweisen kann. Auch wenn es in dem einen Fall um gesundheitliche Daten geht und in dem anderen um Punkte, die man für bestimmte Verhaltensweisen erhält, ist das Prinzip das Gleiche: Zugangsbeschränkungen zu Veranstaltungen und Angeboten, die bisher von jedermann wahrgenommen werden konnten.
Aber umgekehrt mag der eine oder andere sich fragen, was denn verkehrt daran sein kann, wenn der Staat Verhaltenssteuerung per Positivanreinzen vornimmt. Schließlich gibt es ja neben Verbotsgesetzen, die schädliches Verhalten bestrafen auch jetzt schon Belohnungen dafür, wenn man sich „richtig“ verhält.
Aber ist es am Ende die Zivilgesellschaft oder der Staat, der definiert, was „richtig“ und „sozial“ und „solidarisch“ ist und also belohnenswert? Besteht nicht das Risiko, dass diese Art sozialer Steuerung Hilfsbereitschaft, Aufopferung und Altruismus vollständig zerstört, indem diese Verhaltensweisen belohnt werden?
Das klingt zunächst paradox, weshalb es vielleicht hilft, sich konkret vor Augen zu führen, wie so etwas aussehen könnte:
Schon die Kinder bekämen Punkte dafür, wenn sie Klassensprecher oder Schulsanitäter werden und könnten ihr Portfolio mit Sozialpraktika, politischem Engagement oder Hilfsmissionen in Hochwassergebieten aufbessern. Für den späteren Arbeitgeber, zumal wenn er im sozialen Bereich angesiedelt ist, könnten die Sozialpunkte genauso wichtig oder noch wichtiger sein als die Fachnoten, würden diese doch die Bereitschaft widerspiegeln, Gutes zu tun.
Ebenso könnte der Arbeitnehmer, der seine Wochenenden nicht vor dem Fernseher, sondern mit Nachbarschaftshilfe, Baumpflanzprojekten oder politischer Arbeit verbringt, sich durch seine Punkte Vorteile bei der nächsten Bewerbung verschaffen.
Und natürlich ist es auch vorstellbar, dass die Punkte gleichsam eingetauscht werden können, so dass jemand, der sich viel um andere gekümmert hat, als Ausgleich im nächsten Urlaub Vergünstigungen erhält, First Class fliegen und All Inclusive ohne Aufpreis buchen kann oder wie in dem bayrischen Modell Kinofreikarten oder ähnliches erhält.
Selbst wenn wir annehmen, dass der Staat so ein System nicht ausnutzen würde, um Kritik an der Regierung als „unsoziales“ Verhalten zu markieren und mit Punkteverlust zu bestrafen, wie in China und auf der anderen Seite nicht regierungstreuer politischer Aktivismus, sondern echte, sinnvolle Hilfe am Menschen auf diese Weise bepunktet und belohnt würde, wird doch allein durch die obigen Beschreibungen sehr deutlich, inwiefern hier Fehlanreize gesetzt werden:
Die „Aktivisten“ würden ihre Aktivitäten nämlich nicht mehr ausführen, weil sie anderen helfen wollen, sondern um ihr Punktekonto aufzufüllen.
Es gibt Leute die meinen, Altruismus gäbe es gar nicht. Wer anderen helfe, tue das nur aus Eigennutz, z.B. weil er sich dann besser fühle.
Abgesehen davon, dass es ja auch Menschen gibt, die echte Nachteile in Kauf nehmen, indem sie anderen helfen, ist es ein großer Unterschied, ob jemand sich zufrieden auf die Schulter klopft, weil er einen Betrag an eine wohltätige Sache gespendet oder jemandem aktiv geholfen hat oder ob er dafür eine immaterielle, aber handfest einsetzbare Gegenleistung in Form sozialen Kredits erhält.
Soziales Engagement hat etwas Revolutionäres. Schon die 68er haben sich gegenseitig erzählt, sie würden mutig gegen ihre Elterngeneration aufstehen, die Nazis, welche immer noch an den Schalthebeln der Macht saßen und nichts aus dem Gräuel der Kriegszeit gelernt hätten. Auch die heutigen Aktivisten, wie „FridaysForFuture“ und die „letzte Generation“ inszenieren sich als mit dem Mut der Verzweiflung ausgestattete Rebellen , die den alten Politikern die Stirn bieten. Die Politik unterstützt aber die Ziele von „FridaysForFuture“, von „BlackLivesMatter“, vom ChristopherStreetDay, von ukrainischen Unterstützungsdemos. Wozu demonstrieren, wenn man weiß, dass das, was man fordert, mit dem übereinstimmt, was die Politik will?
Dass auf der anderen Seite echtes soziales Engagement wie das von den Fluthelfern im Ahrtal, der Corona-Spaziergänger und der Friedensaktivisten zunehmend geächtet und sogar kriminalisiert wird, ist die andere Seite der Medaille.
Wenn man sich dann noch anschaut, dass einige derjenigen, die sich am Lautesten zu Rebellen und zum Herz der aufrechten Zivilgesellschaft stilisieren, indirekt oder gar direkt vom Staat finanziert werden, entsteht der Eindruck, dass es schon eine andere Form der Sozialpunkte gibt: Die Bezahlung von NGOs und Einzelpersonen für politischen Aktivismus, der dem Staat genehm ist.
Wie aber kann ein Staat soziales Verhalten steuern oder belohnen, wenn nicht über Bepunktung oder Bezahlung?
Man könnte damit anfangen, die Stellschrauben so zu drehen, dass Menschen in sozialen Berufen mehr Geld bekommen, als Anwälte, Steuerberater und Beamte. Statt Preise zu verteilen oder Orden zu verhängen, könnte der Staat sich Menschen leisten, die gut dafür bezahlt werden, dass sie anderen tatsächlich helfen.
Das würde aber nur dann funktionieren, wenn es ein doppeltes Kontrollsystem gäbe: Die bezahlten Helfer müssten gegenüber der Bevölkerung transparent machen, warum sie wem mit wieviel Geld (von dem sie sagen, wo es herkommt) oder Engagement helfen und warum sie jemand anderem nicht helfen. Die Leute müssten die Möglichkeit haben, bei einer staatlichen Kontrollinstanz anzuzeigen, wenn sie Korruption, Geldverschleppung oder ideologische Scheuklappen bei dem Helfer vermuten und die staatliche Instanz müsste die Helfer im Namen des Volkes abstrafen können, wenn sie ihre Macht missbrauchen.
Das ist natürlich alles rein utopisch. In jedem Staatswesen gibt es Korruption. Aber man kann schon die Frage stellen, warum ein Staat soziales Engagement loben und mit Auszeichnungen belohnen sollte, wenn er es auch direkt finanzieren kann. Das hat einen ähnlich schalen Beigeschmack wie das Klatschen für die Krankenschwestern bei gleichzeitigem Personalabbau und immer unmenschlicheren Arbeitsbedingungen für viele Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten.
Es ist das gleiche Problem wie bei Richtern und vielen anderen Berufen: Sind sie unabhängig, ist ihre Macht zu groß. Der eine, vielleicht sogar die Mehrheit, mag Entscheidungen zum Wohle der Allgemeinheit treffen. Der andere arbeitet vielleicht eher in die eigene Tasche. Werden sie aber kontrolliert, dann in der Weise, dass sie nicht abgestraft werden, wenn sie sich die Taschen voll machen, sondern wenn sie entgegen den Vorgaben von oben entscheiden.
Daher lohnt sich ein Blick auf das Funktionieren sozialen Engagements vor den Zeiten der Dauer-Revolution, in den goldenen Fünfzigern des letzten Jahrhunderts. Da war es das Privileg der Ehefrauen reicher Männer (und ganz viele Ehefrauen hatten reiche Männer, zumindest in der Weise, dass diese mit ihrem Einkommen allein die Familie ernähren konnten), sich sozial zu engagieren. Sie taten das meist in Form von Nachbarschaftshilfe, Suppenküchen für Obdachlose, etc., also direkt vor Ort. Auch in den Fünfzigern war sicherlich nicht alles in Ordnung, aber schaut man vom heutigen Standpunkt auf diese Zeit, hatten die Menschen einen höheren Lebensstandard.
Die Frage, wie ein Staat Verhalten steuern sollte, würde ein Libertärer beantworten mit: Gar nicht! Alles, was über eine minimale Gesetzgebung zum Schutz von körperlicher Unversehrtheit und Eigentum hinausgeht ist nach dieser Philosophie ein Eingriff in die Souveränität des individuellen Handelns.
Allenfalls kann ein Staat die unglaublichen technologischen Errungenschaften wie Automatisierung und künstliche Intelligenz, statt sie für Überwachung und soziale Kontrolle zu verwenden, so einsetzen, dass jedem die Möglichkeit gegeben wird, sich nach getaner Arbeit zu überlegen, ob er dem Nachbarn, dem Obdachlosen, dem Flüchtling oder dem Kind in Afrika helfen möchte oder lieber die neueste Serie auf Netflix schauen will. Nämlich indem sinnvolle Arbeit, vom Müllmann über die Hebamme bis zum Firmenvorstand so bezahlt wird, dass der Einzelne nicht in Überstunden, unbezahlter Mehrarbeit und Kampf gegen bürokratische Windmühlen versinkt.
Die viel beklagte soziale Lethargie entsteht auch dadurch, dass viele Menschen überhaupt keine Zeit haben, sich das Schicksal ihres Nächsten anzusehen, weil sie genug eigene Probleme haben.
Wenn man das vorhandene Geld anders verteilen würde, dann könnten alle in Europa in unvorstellbarem Luxus leben. Niemand auf der Welt müsste hungern und jeder könnte Zugang zu medizinischer Versorgung haben.
Und all diese Dinge – genügend Wasser und Nahrung, medizinische Versorgung, usf., sind auch als Menschenrechte formuliert wurden, die einem jeden zustehen, unabhängig von seinem Impfstatus oder der Höhe seiner „Sozialpunkte“.